Interview mit Ingo Froböse
„Für Fitness ist es nie zu spät“
Er ist Juror beim AOK-Förderpreis „Gesunde Nachbarschaften“ und der wohl prominenteste Sportwissenschaftler der Republik: Prof. Dr. Ingo Froböse. Wenn es um Bewegungsangebote speziell für ältere Nachbarinnen und Nachbarn geht, hat er eine klare Botschaft: „Ältere Menschen sind nicht überfordert, sondern unterfordert. Wir müssen ihre Fähigkeiten viel mehr herausfordern.“

Viele Nachbarschaften wollen mit ihren Gemeinschaftsprogrammen dazu beitragen, dass alle Nachbarinnen und Nachbarn möglichst lange beweglich bleiben. Worauf kommt es dabei an?
Im Hinblick auf eine möglichst lange Gesundheit gibt es zwei große Bausteine. Das eine ist Herz-Kreislauf-Training. Damit stimuliere ich das Immunsystem, die Durchblutung, die Gefäße, die Lunge. Das Zweite ist, einen zu großen Verlust von Muskelkraft und -masse zu verhindern, was mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird. Denn ohne Beinkraft können wir nicht aufstehen, ohne Armkraft keine Einkaufstasche tragen.
Was sind aus Ihrer Sicht besonders wirksame Ansätze dafür?
Ich sehe drei verschiedene Schwerpunkte. Erstens: gemeinsame Ausdaueraktivitäten wie spazieren gehen, laufen oder radeln, um etwas für den Kreislauf zu tun. Ein schönes Beispiel vom Förderpreis 2024 ist die Initiative „Wege aus der Einsamkeit“ mit ihren Spaziergängen um die Alster. Der zweite Schwerpunkt sind die Muskeln. Dafür sind wohnortnahe Angebote wünschenswert, die ein Muskeltraining in kleinen Gruppen anbieten, wie etwa das Programm „Fit im Park“ vom Quartiersnetzwerk „martini erleben“. Mit solchen Angeboten können Teilnehmende ans Training herangeführt werden und Anregungen für zu Hause mitnehmen. Ich fände zum Beispiel auch ein Anti-Rollatoren-Training gut, um die Selbstständigkeit zu fördern und Menschen aus der Abhängigkeit vom Hilfsgerät Rollator zu lösen. In diesem Zusammenhang ist auch der dritte Schwerpunkt wichtig: Gleichgewicht und Koordination. Um diese zu trainieren, könnte ich mir etwa kleine Parcours vorstellen. Wichtig ist, einen sicheren Rahmen für die Trainings zu schaffen und den kann Nachbarschaft wunderbar bieten.
Gerade Sturzprävention ist ja auch ein wichtiges Thema bei älteren Menschen.
Da bin ich ein großer Kritiker dessen, was aktuell getan wird. Wenn ich jemandem empfehle, stell dich doch bitte mal beim Zähneputzen auf ein Bein, dann schult das nichts, weil der Reiz viel zu gering ist. Das wichtigste Training zur Vermeidung von Stürzen ist der Erhalt der Leistungsfähigkeit der Muskulatur, der Muskelkraft und der Muskelschnelligkeit. Wir stürzen nicht in langsamen, statischen Situationen, sondern wir stürzen in dynamischen Situationen, wo dann die Fähigkeit fehlt, schnell zu reagieren und sich abzufangen. Deshalb brauchen wir ungewöhnliche Maßnahmen für Seniorinnen und Senioren, Aktivitäten wie Hüpfen, Springen, vielleicht auch auf dem Trampolin. Tanzen ist auch gut, aber dann nicht nur Walzer, sondern auch mal Rock'n'Roll wegen der schnelleren, dynamischeren Bewegungen. Auch hier heißt es, fordere die Fähigkeiten der älteren Menschen heraus. Versuche nicht, ihnen alles wegzunehmen, sondern ihnen im Gegenteil Belastung zu geben, damit sie sich auch unter ungewohnten Bedingungen sicher bewegen können.
Wie lässt sich vermeiden, dass ein Bewegungsprogramm ältere Menschen überfordert?
Meine provokante Botschaft ist: Ältere Menschen sind nicht überfordert, sondern unterfordert. Das ist das viel größere Problem. Ihr Alltag unterfordert sie sowohl körperlich als auch kognitiv. Sie sitzen in der Regel 10,5 Stunden am Tag, hinzu kommen die Ruhezeiten im Liegen. Viel zu schnell heißt es: Schon dich. Dabei ist Schonen der Weg in den Verlust der Leistungsfähigkeit. Auf der anderen Seite haben Sie natürlich recht, überfordern dürfen wir sie auch nicht. Das Schöne ist: Muskulatur ist dynamisch. Sie kann sich in jedem Alter anpassen. Für Fitness ist es also nie zu spät. Wichtig ist, moderat anzufangen und alle Teilnehmenden gut mitzunehmen und zu begleiten, mit ihnen darüber zu reden, wie die Belastung für sie ist, ob sie nach dem Training Schmerzen hatten oder schlecht geschlafen haben.
Brauchen Nachbarschaften dafür professionelle Unterstützung?
Wenn Menschen animiert werden, sich zu bewegen, würde ich immer erst mal sagen, alles ist gut, Hauptsache sie tun etwas. Sobald es dann allerdings an bestimmte Fragestellungen geht – viele ältere Menschen haben ja auch gleich mehrere gesundheitliche Probleme – brauche ich eine Grundkompetenz, um mit den unterschiedlichen Sorgen, Problemen und Beeinträchtigungen der Menschen umgehen zu können. Das geht nicht ohne Unterstützung. Krankenkassen wie die AOK bieten zum Beispiel Fortbildungsmaßnahmen an, auch wohnortnahe Sportvereine oder Landessportorganisationen können unterstützen.
Für alle Nachbarschaften, die jetzt neu mit sportlichem Engagement starten wollen: Wie nehmen sie die Nachbarinnen und Nachbarn am besten mit?
Das Wichtigste ist, von vornherein konkrete Termine zu machen, damit eine gewisse Verpflichtung entsteht. Bei Sport in Gemeinschaft ist das soziale Momentum ein großer Motivationsfaktor, der auch eine soziale Druckkomponente mit sich bringt. Sich um den Sport zu drücken, fällt schwerer, wenn die anderen auf einen warten. Natürlich sollte die Aktivität den Beteiligten auch Spaß bringen und alle sollten vom Niveau her mitziehen können. Deshalb sind niedrigschwellige Angebote wie etwa Spazierprojekte so ein guter Einstieg.